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Autonomes Jugendhaus Bargteheide



05.12.21 - 01:13h


Heute beim Kleidertausch-Event im Haus.

Ich habe den Jaguar vollgeladen mit den Altkleidern vom Dachboden und auf dem Weg nach Bargteheide noch bei der Herat Bäckerei gehalten, um ein Fladenbrot zu kaufen. In der Parkbucht stand ein großer Container voller Schutt aus dem entkernten Penny-Markt nebenan, und weil ich ja nur schnell ein Fladenbrot kaufen wollte, hab ich also schräg geparkt, mit dem Heck halb auf der Fahrbahn. Beim Aussteigen stellte ich dann fest, dass mein Einparkmanöver dieses Mal wohl ganz besonders unsauber verlaufen sein muss, denn es baute sich prompt ein hochgewachsener Mann in Moncler-Pufferjacket und mit Seiten auf null vor mir auf und behauptete, ich sei gegen seinen schwarzen C63 gefahren - ganze dreimal gleich! Die Anzahl erschien mir im ersten Moment dann doch etwas ausufernd hoch, aber schließlich musste ich zugeben, dass, wenn es einen Menschen gäbe, der beim Einparken dreimal gegen den vorstehenden C63 fährt, ohne es zu merken, dass dieser dann wahrscheinlich ich wäre.


Also entschied ich mich, einfach recht freundlich zu dem Mann zu sein und auf das Beste zu hoffen. Ich erzählte, wie dringend ich heute ein Fladenbrot kaufen wollte, quatschte mit ihm ein bisschen über sein Auto - und siehe da, nachdem bei ihm der erste Road-Rage-hyper abgeklungen war, begann er auf einmal auch, ganz freundlich zu mir zu sein.

Später gingen wir dann noch gemeinsam in die Fladenbrotbäckerei, in der er dann erstmal der Verkäuferin, den Bäckern und den zwei Kundinnen, die auch noch im Geschäft standen, lautstark auf Farsi erläuterte, das und wie genau dieser Junge ihm gerade in seinen C63 gefahren ist. Alle lachten ganz herzlich, und weil ich wirklich nicht wusste, wie man sich am besten verhält in einer solchen Situation, lachte ich einfach mit, und da lachten gleich alle noch viel lauter, und der C63 Fahrer trommelte mir mit seiner Pranke auf den Rücken und sagte immer wieder, "Bruder du hast Deutschland zerstört Bruder, du hast Deutschland auseinander genommen." Und dann lachten wir noch eine ganze Zeit so weiter, bevor irgendwer von uns ein Fladenbrot bekam.


Im Haus war zu Beginn überhaupt gar nicht mal so viel los. Als ich ankam, waren eine Handvoll Leute schon dabei, allerlei an Kleidern auf den bemalten Sofas zu verteilen. Meine Kleidung hatte ich noch im Auto gelassen, da ich in Summe mehr dabei hatte, als ich selber in einem Marsch tragen konnte. In einer dunklen Ecke an einem anderen Raum setzte ich mich an einen tiefen Tisch, um den herum schon drei andere Leute saßen und begann, mein Fladenbrot mit Hummus zu essen. Keiner sah mich an. Keiner stellte irgendwelche Fragen. Wir waren einfach da und ließen das Fladenbrot im Kreis rumgehen.


Das "U-Boot" nennen die Bargteheider den noch kleineren Raum, der neben dem schon sehr kleinen Hauptraum aus Wellblech angebaut ist. Auf schätzungsweise zehn Quadratmeter beläuft er sich, zwei in der Breite und fünf in der Tiefe, und ist voll gestellt mit Billig-Europaletten und Fahrrädern. Gegenüberliegend der Tür an der kurzen Raumseite ist ein DJ-Pult in einer abgeschotteten Kabine aufgebaut. Wer immer gerade Bock hat, steckt sich ein, legt auf und es kommt immer eine kleine einstellige Anzahl an Leuten zusammen, die raven und tanzen, als würden sie gerade im Berghain stehen.


Ich komme nicht umhin, an Christianes Bericht vom Sound zu denken. Die besprayten, beschmierten Wände, die zerfledderten Sofas, die Sprüche, die Statements und die Parolen an den Wänden: alle diese Bilder überschneiden sich beinahe haargenau mit denen, die mir immer beim Gedanken an einen westdeutschen Jugendtreff in den Kopf kommen. Eine omnipräsente Energie, ein räumliches Allgemeinbrummen, ein Duft, der in der Luft liegt, von zwei Teilen herzzerreißender Hoffnungslosigkeit und einem Teil unrealisiertem Potential. So viel ungeahntes, unrealisiertes Potential. Ob es wohl für immer unrealisiert bleiben wird? Wahrscheinlich ja. Wahrscheinlich, ja, wird es in vielen Fällen unrealisiert und auch für immer ungeahnt bleiben. Das macht es allerdings nicht zwangsläufig weniger wert. Wird der Begriff und auch die reine Idee von Potential nicht im Kern erst durch seine ungreifbare, theoretische Natur charakterisiert? Potential ist nicht weniger wert, nur weil es Potential bleibt. Oder anders: es ist ausschließlich so lange von Wert, wie es auch diffus und undefiniert, wie es auch Potential ist (und bleibt).


Wie dem auch sei. Dieses Gefühl. Ein Eindruck von Ungewissheit und Abenteuer. Das ist es, was in jedem Menschen, an jedem Stück Mobiliar, und an dem gesamten Ort im Ganzen zu finden ist.


Und irgendwie bedeutet mir das eine ganze Menge. Jedes Mal, wenn ich da bin, ist wie ein riesiges "what could have been" über mein eigenes Leben. Mittlerweile ist der Zug gewissermaßen abgefahren: Ich wohne schon lange nicht mehr dort und bin mittlerweile irgendwie auch in einer anderen Lebensphase angekommen. Aber im Rückblick denke ich mir: "Warum bin ich denn nicht früher mal vorbeigekommen?" Vielleicht hätte das Haus für mich in turbulenten Lebensphasen ein Hafen sein können, genauso wie es das, da bin ich mir sicher, auch heute noch für viele andere Leute ist.


Aber einfach nur, dass es das gibt, ist auch schon gut. Dass es diesen Ort gibt, an dem junge Leute zusammen kommen, in einem selbstgeschaffenen Rahmen einander begegnen, und dort Momenteweise am Stück sich selbst vergessen. Sich loslassen.

Dass es solche Orte gibt, das ist so wichtig.

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